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Flüchtlinge an Belarus-Polen-Grenze zurückgedrängt – Aktivisten kämpfen

Tausende versuchen weiterhin, die Grenze von Belarus nach Polen zu überqueren. Trotz Zaun. Grenzschützer drängen die Flüchtlinge zurück, Aktivisten versuchen, ihnen zu helfen. Es ist auch ein Kampf um die Deutungshoheit. Beata Siemaszko pfeift. Es ist ein ruhiges Pfeifen, ein langer durchgängiger Ton. Sie horcht. Stille. Sie schaut auf ihr Handy, bahnt sich ihren Weg weiter durch das Dickicht des Urwalds ganz im Osten Polens. Dann findet sie, was sie sucht. Zwei Syrer liegen auf dem Boden, hinter einem Baum. "Kommt, kommt", sagt sie auf Englisch, "weiter rein."Die beiden Männer rappeln sich auf. Zu nah liegen sie an einem Weg, auf dem der Grenzschutz Patrouille fahren könnte. Vor ihm verstecken sich die beiden Syrer. Vor drei Tagen haben sie von Belarus aus die Grenzmauer überquert, seitdem warten sie in diesem Wald auf den Weitertransport. Denn Asyl wollten sie in Deutschland beantragen, in Berlin, dort lebten bereits Freunde von ihnen, erzählen sie. Werden sie aber im Urwald erwischt, müssen sie sich entscheiden: Asyl in Polen oder abgeschoben werden – und dann erneut versuchen, unerkannt über die Grenze zu kommen.Einige Meter weiter findet Siemaszko eine gute Stelle, versteckt hinter Büschen. Sie hockt sich hin, die Männer, 30 und 38 Jahre alt, machen es ihr nach. Sie packt Wasserflaschen, frische Kleider, eine Powerbank und Ladekabel aus ihrem Rucksack. Dann öffnet sie eine schwarze Thermoskanne, füllt die Linsensuppe daraus in Pepsi-Pappbecher, reicht den Männern Holzlöffel. "Erst essen, dann fragen", sagt sie. Zwischendurch ertönt im Wald Hundebellen, Siemaszko schaut sich kurz um, legt den Finger auf den Mund.Fast täglich fährt Siemaszko in diesen Tagen in den polnischen Urwald an der Grenze zu Belarus, spürt Geflüchtete auf, versorgt sie. Denn obwohl längst nicht mehr so viele Menschen die Grenze überqueren wie zur Hoch-Zeit im Herbst 2021, ist diese Migrationsroute noch immer aktiv. Mehr als 12.000 Menschen haben nach offiziellen Angaben in diesem Jahr schon versucht, auf diesem Weg in die EU zu gelangen. Doch er ist nicht einfach nur eine Migrationsroute. Er ist auch Austragungsort eines geopolitischen Machtspiels.Besonders deutlich wurde das im November 2021, als Belarus Tausende Menschen aus dem Irak und Syrien in das Land einfliegen ließ und zur Grenze trieb. Belarus missbrauchte die Not der Flüchtlinge, um Druck auf Polen und damit die EU auszuüben. Die polnische Regierung reagierte mit Abschreckung, schickte das Militär an die Grenze, wehrte die Menschen ab. Dann baute das Land eine Grenzanlage. 186 Kilometer lang, 5,50 Meter hoch, an der Außenseite teils mit Nato-Draht behangen. Und weil sich zunächst Menschen unter dem Zaun durchbuddelten, liegt der Draht nun auch vor dem Fundament.Ein Kampf um die DeutungshoheitWas von der Barriere zu halten ist, dazu gehen die Meinungen weit auseinander. Die eine Seite sieht es als Ermächtigung, als einen "Damm", mit dem Polen sein Land beschützt. Für die andere Seite ist es eine "Mauer", die keine Migration verhindert, denn noch immer gelingt es Menschen – auch mithilfe von Schleppern – sie zu überwinden. Sie vergrößere nur das Leid der Flüchtlinge. Auch ein Jahr nach Fertigstellung des Zauns wird darum heftig gestritten. Es ist ein Kampf um die Deutungshoheit: Verletzt Polen mit seiner Flüchtlingspolitik die Menschenrechte? Im Zentrum dieses Kampfes stehen zwei Frauen.Die eine ist Siemaszko, die Frau aus dem Wald. Sie ist in der Grenzregion bekannt für ihr Engagement für die "Grupa Granica", einen losen Verband von Flüchtlingsaktivisten und -organisationen. Sie haben begonnen, sich im August 2021 zu organisieren, als vermehrt Menschen über die Grenze kamen. Über eine zentrale Handynummer können Migranten, die an der Grenze feststecken, sich bei ihnen melden und ihren Standort schicken. Dann kommen die Aktivisten in den Wald, versorgen sie mit dem Nötigsten und legen sich dabei auch immer wieder mit dem Grenzschutz an."Die polnischen Behörden behandeln Menschen, die die Grenzen überqueren, oft unmenschlich", sagt Siemaszko. Es gibt viele Berichte darüber, dass polnische Grenzschützer die Menschen teils mit Gewalt zurückdrängen. Dass ihre Asylgesuche ignoriert werden. Dass sie in den polnischen Asylzentren gedemütigt und geschlagen werden. Siemaszkos Aufgabe ist es, so sieht sie es, zumindest einige Menschen davor zu bewahren.Bekommt sie einen Standort geschickt, wie an diesem Tag, muss es schnell gehen. Eilig packt sie ihre Rucksäcke, fährt mit dem Auto kilometerweit zum Wald. "Intervention" nennen die Aktivisten das. An diesem Tag trifft sie auf einem Parkplatz einen Unterstützer, der anonym bleiben will. Auch er hat Ausrüstung dabei, unter anderem die Linsensuppe, die er zuvor schnell noch aufgewärmt hat. Die Aktivisten bezahlen das nicht aus eigener Tasche. Sie erhalten viele Sachspenden, die Suppe etwa kocht eine lokale Gruppe namens Zupa na Granicę – "Suppe für die Grenze".Der Unterstützer fährt Siemaszko in den Wald, dann verschwindet er schnell wieder. Ein Auto auf einem Waldweg, das würde die Grenzschützer aufmerksam machen. Siemaszko sprüht sich mit Insektenspray ein, eine weitere Flasche bringt sie den Syrern mit. Denn ohne diesen Schutz wird man im polnischen Urwald in kürzester Zeit zerstochen.Die Frau, die qua Amt ihre Widersacherin ist, sitzt rund 100 Kilometer entfernt, im Hauptquartier des Grenzschutzes in Białystok. Generalmajorin Katarzyna Zdanowicz ist die Sprecherin der Behörde in der Region Podlachien, in der der Grenzzaun steht. Wer zu ihr will, muss auf ein Kasernengelände im Südwesten der Regionalhauptstadt, an einem Pförtner vorbei, über den Hof in einen Altbau. Ihr kleines Büro liegt im ersten Stock, es ist etwas beengt, die Ausstattung mit einfachen grünen Polstersesseln und den beigen Vorhängen erinnert passenderweise an alte Grenzstuben.Die Vorwürfe der Aktivisten weist sie zurück. "Der polnische Grenzschutz verhält sich korrekt", sagt sie. Jedes Fehlverhalten müsse gemeldet werden, es gebe dafür ein strenges Protokoll. Von den Aktivisten fühlt sie sich ungerecht behandelt: "Ich werde oft beleidigt." Dabei schätze sie die Arbeit der Aktivisten, halte sie aber auch für naiv: "Sie sind unwissentlich Teil der Schleppergruppen." Denn wenn diese merkten, dass Migranten zu schwach sind, würden sie sie zurücklassen und ihnen die Nummer der Aktivisten geben, sagt sie.Von Zusammenarbeit zu FeindschaftZdanowicz patrouillierte früher selbst an der Grenze. Ein Bild in ihrem Büro zeigt sie vor 15 Jahren auf Skiern im Schnee, hinter ihr sind die polnische und die belarussische Grenzmarkierung zu sehen. Damals trennte die beiden Staaten nur ein Ackerstreifen, der regelmäßig umgepflügt wurde, damit Schmuggler bei der Übertretung Fußspuren hinterlassen. Migration war damals kein Thema.Zdanowicz wirkt nostalgisch, wenn sie zurückdenkt. "Wir haben Feste gefeiert, sind zusammen Kajak gefahren", sagt sie. Aus der Zusammenarbeit wurde Feindschaft, seitdem die Belarussen gezielt Migranten über die Grenze schicken. Auch Russland sei an dem Plan beteiligt, sagt sie. "Sie wollen uns destabilisieren." Begonnen habe das 2012 während der Europameisterschaft, die in Polen und der Ukraine stattfand, ein erster Testlauf. Dass das Kalkül war, habe Polen damals niemand geglaubt. Erst seit der Invasion in die Ukraine sei es endlich allen klar.Folgt man ihrer Darstellung, ist es nicht nur so, dass Menschen aus dem Irak, Syrien oder Indien visafrei in Russland einreisen und in Belarus bis an die Grenze reisen dürfen und teilweise auch mit Gewalt getrieben werden – was bekannt ist. Es gehe weit darüber hinaus: "Die Tatsache, dass Russland involviert ist, kann man daran sehen, dass diese Migranten bezahlt werden", sagt sie. Bereits in den Herkunftsländern würden russische und belarussische Dienste den Grenzübertritt organisieren, und auch "die Schlepper in Polen stehen in Kontakt mit Russland und Belarus".Diese Aussagen dürften in Europa zumindest umstritten sein. Die deutsche Bundespolizei etwa sieht keine belastbaren Hinweise für eine Einmischung russischer und belarussischer Behörden und geht eher davon aus, dass die Vorteile der sogenannten Ost-Route in den Communitys der Migranten verbreitet und diese deswegen verstärkt genutzt werden. Experten hingegen halten es nicht für abwegig, dass Schlepper informell Kontakte zu Behörden dieser Staaten haben – öffentlich zugängliche Beweise aber gebe es nicht. Dazu, ob Migranten bezahlt werden, finden sich ebenfalls keine stichhaltigen Belege.Unumstritten ist allerdings, dass die Grenze zwischen Polen und Belarus eine zwischen Feinden ist. Regelmäßig werden polnische Grenzschützer hier von der anderen Seite angegriffen. Auch das werde von belarussischen Diensten orchestriert, sagt Zdanowicz. Lediglich wenn die polnischen Beamten mal ein Feuer auf der belarussischen Seite oder eine verletzte Person bemerken, greifen sie zum Telefonhörer. Ansonsten: Funkstille.Wohl auch aus diesem Grund hat die Barriere alle paar Hundert Meter Türen. Wenn jemand abgeschoben werden soll, dann wird die Tür aufgesperrt, und der Mensch auf die andere Seite geschoben, ganz ohne Kontakt zu den belarussischen Grenzschützern. Die Barriere steht nicht direkt auf der Grenze. Rund 1,20 Meter polnischen Staatsgebiet liegen noch dahinter.Diese Abschiebungen, sie sind ein zentraler Streitpunkt zwischen Grenzschutz und Aktivisten. "Sie gehen perfide vor", sagt Siemaszko. "Sie fragen die Leute, ob sie lieber nach Deutschland wollen und händigen ihnen Dokumente mit der Aufforderung aus, Polen zu verlassen." Die Dokumente seien nur auf Polnisch, die Menschen hätten keine Ahnung, worauf sie sich einlassen, sagt Siemaszko.Was Teile der Grenzschützer über die Menschen denken, die über die Grenze kommen, zeigt die Begegnung mit einem Soldaten nahe dem Zaun. "Das sind Touristen aus Belarus", sagt er den t-online-Reportern. Zdanowicz bestreitet, dass etwas entgegen der Regeln ablaufen würde. Wer kein Asyl in Polen beantrage, müsse wieder gehen – so sei die Rechtslage.Es ist der Zwiespalt, auf den die EU bislang keine Antwort gefunden hat: In den Ländern, in denen die Menschen ankommen, wollen sie oft nicht bleiben – und erwünscht sind sie dort oft auch nicht. Wollen sie aber dorthin, wo sie bessere Bedingungen vorfinden, müssen sie die Gesetze brechen. Erst kürzlich gerieten Siemaszko und Zdanowicz deswegen wieder einmal in der örtlichen Presse aneinander. Auslöser war ein Mann, der im Mai an der Grenze aufgetaucht war. Er saß zwar hinter dem Zaun, aber in dem Streifen, der noch zu Polen gehört. Den Aktivisten schickte er ein Bild von seinem Bein: Es war frisch geschient, von Ärzten in Polen. Dort sollte er wegen seines komplizierten Bruchs eigentlich operiert werden. Und doch schob ihn der Grenzschutz durch das Tor auf die andere Seite ab.In einem ersten Artikel der Lokalzeitung "Wyborcza Bialystok" zu dem Fall behauptete Zdanowicz, dass es den Mann gar nicht gebe. Siemaszko kommentierte das dort als Lüge. Später gab die Grenzschützerin seine Existenz zwar zu, allerdings habe er wohl zu weit weg vom Zaun im Wald gelegen, sodass er nicht gesehen werden konnte – und somit auch nicht auf polnischem Territorium war. "Sie lügt", sagt Siemaszko über Zdanowicz. Sie und andere Aktivisten übten Druck auf die Behörden aus, schließlich wurde der Mann wieder in ein polnisches Krankenhaus geholt und operiert. Auf seinem Nachttisch lag ein Papierzettel, auf dem auf Englisch gekritzelt stand: "Ich will Asyl hier in Polen bitte".Für die Aktivisten und Journalisten ist dieser Fall ein weiterer Beweis für illegale Abschiebungen. Zdanowicz dementiert: Das Krankenhaus hatte den Mann aus der Behandlung entlassen und an den Grenzschutz übergeben. Ein Arzt der Klinik aber, in der er später operiert wurde, betonte gegenüber der örtlichen Zeitung "Wyborcza Bialystok", dass die OP wegen eines komplizierten Bruchs dringend notwendig gewesen sei."Der Mann hätte sterben können", sagt Siemaszko. Denn der Mann habe sich, als er mit dem geschienten Bein auf der anderen Seite des Zauns lag, kaum noch bewegen können, war dringend auf Hilfe angewiesen. Unberechtigt ist diese Sorge nicht. Immer wieder kommen Menschen an der Grenze ums Leben, etwa, weil sie im Winter erfrieren, weil sie im Grenzfluss Bug ertrinken oder verletzt im Wald nicht gefunden werden. 49 bestätigte Todesfälle gibt es mittlerweile seit 2021. Und mehr als 300 Menschen seien vermisst, sagt Siemaszko. Die Aktivisten führen darüber eine eigene Statistik. Sie sind teils auch mit den Familien der Vermissten in Kontakt. Hören auch diese nichts mehr von ihnen, gehen die Aktivisten davon aus, dass sie womöglich tot sind.Warten auf die SchlepperSiemaszko versucht deswegen, so viele Informationen wie möglich von den Migranten zu bekommen. Die beiden Syrer im Wald lehnen allerdings ab. Den Kontakt zu ihren Familien wollen sie nicht herausgeben. Ob sie wissen, wie sie hier wegkommen, will Siemaszko stattdessen wissen. Sie nicken. "Ein Auto holt uns heute Nacht ab", sagt der Jüngere, der nicht will, dass sein Name öffentlich wird. Sie haben in Syrien angerufen, dort wurde ihr Standort weitergegeben. "Falls ihr wieder abgeschoben werdet, meldet euch wieder bei uns", sagt Siemaszko. Zum Abschied raucht sie mit den beiden noch eine Zigarette.Dann geht Siemaszko wieder zurück, schnell, leise. Der anonyme Unterstützer sammelt sie auf einem Waldweg auf, legt den Rückwärtsgang ein, rast über Baumwurzeln zurück auf die Straße. Wenige Minuten später steht sie auf einem Parkplatz, auf dem sie ihren Wagen geparkt hat. "Das war mustergültig", sagt sie. "Rein, 15 Minuten bleiben, wieder raus." Manchmal verbringe sie hingegen Stunden im Wald, etwa wenn sie Verletzte vorfinde. Ans Aufhören aber denkt sie nicht, auch wenn sie seit einem Jahr in Rente ist. "Vielleicht in 20 Jahren", sagt sie.Und so dürfte der Kampf um die Deutungshoheit im polnischen Urwald weitergehen. Denn einig sind sich Siemaszko und Zdanowicz nur in einem: dass an der ganzen Misere Belarus und Russland schuld sind. Eindrücke von den beiden Männern im Wald, Siemaszkos Arbeit und wie es an der Grenze aussieht, sehen Sie auch hier oder oben im Video.