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Friedrich Merz' Kreuzberg-Aussage: Diese Städte sind der Durchschnitt

Die Aussage von Friedrich Merz, ein Jahrmarkt in Bayern sei Deutschland, der Bezirk Berlin-Kreuzberg aber nicht, erregt die Gemüter. Eine exklusive Studie für t-online zeigt jetzt, wie falsch Merz mit dieser Aussage liegt.Als Kompliment gilt es normalerweise nicht, Durchschnitt zu sein. CDU-Chef Friedrich Merz aber kehrte das am vergangenen Wochenende ins Gegenteil. "Nicht Kreuzberg ist Deutschland, Gillamoos ist Deutschland", sagte er bei einer Rede auf dem gleichnamigen Jahrmarkt in Abensberg.Nun unterscheiden sich die niederbayerische Kleinstadt und der Berliner Innenstadtteil schon maßgeblich. Das ländlich gelegene Abensberg ist etwa berühmt für seinen Spargel, der dort großflächig angebaut wird. Kreuzberg dagegen für seine vielfältige Bar- und Clubszene, die jedes Jahr Zehntausende Touristen anzieht. Wie also meinte Merz seinen Satz? Und: Ist der eine Ort tatsächlich repräsentativer für Deutschland als der andere? Um es gleich vorwegzunehmen: Ganz richtig lag Merz mit seiner Aussage nicht. Das jedenfalls belegt eine Auswertung, die das Sinus-Institut exklusiv für t-online erstellt hat. Demnach sind weder Gillamoos noch Kreuzberg Deutschland – sondern eine ganz andere Stadt. Doch dazu später mehr.Andere LebensrealitätenZunächst zur Frage, was Merz eigentlich sagen wollte. Armin Peter, Pressesprecher des CDU-Chefs, erklärt dazu auf Anfrage von t-online: "Die Aussage bezieht sich darauf, dass ausweislich der offiziellen Bevölkerungsstatistik etwa sieben von zehn Bürgern in Deutschland in Dörfern und Städten unter 100.000 Einwohnern leben." Er begründet das so: "Damit ist die Lebensrealität der meisten Menschen natürlich eine andere als die von Großstadtbewohnern. Wer auf dem Land lebt, ist zum Beispiel viel stärker auf das Auto angewiesen."Tatsächlich lässt sich diese Aussage so und so rum betrachten. Peters Erklärung ließe sich etwa entgegnen: 90 Prozent der Deutschen leben in einer Stadt – ob es nun eine Groß-, Mittel- oder Kleinstadt ist. Die Anteile in den verschiedenen Städtegrößen sind dabei relativ gleich, heißt: Es leben in etwa so viele Menschen in Kleinstädten wie in den 80 deutschen Großstädten oder den 634 deutschen Mittelstädten (Zahlen von 2020). Eine Mittelstadt in Deutschland ist oft auch ein sogenanntes Mittelzentrum, muss also qua Definition des Bundesamts für Bauwesen und Raumordnung gewisse Voraussetzungen erfüllen. Dazu gehört neben einer Einwohnerzahl von mindestens 20.000 Menschen auch eine gewisse Ausstattung mit Ärzten, Schulen und kulturellen Angeboten. In einer Mittelstadt lebt es sich demnach schon deutlich anders als in ländlichen Gebieten, wo diese Angebote mitunter nicht fußläufig erreichbar sind.Der Klassiker: Haßloch in der PfalzWas aber ist ein typisch deutscher Wohnort? Auf diese Frage gibt es nicht die eine Antwort, eher verschiedene Herangehensweisen.Lange etwa galt die rheinland-pfälzische Gemeinde Haßloch als Deutschlands repräsentativster Ort. Dieser Ruf stützte sich auf eine Auswertung aus den 1980er-Jahren, die zu dem Schluss kam, dass die 20.000 Einwohner des Ortes in der Alters- und Sozialstruktur ziemlich genau den deutschen Durchschnitt widerspiegeln.Die Gesellschaft für Konsumforschung GfK machte die Stadt daraufhin zu ihrem Testmarkt. Die Einwohner konnten Produkte kaufen, die noch nicht auf dem Markt waren, sahen Fernsehwerbungen, die sonst noch nicht ausgestrahlt wurden.Ende 2021 beendete die GfK die Arbeit dort – nicht wegen des Orts an sich, sondern weil sich der Werbemarkt grundlegend verändert hat. Zwar ist Haßloch noch immer sehr nahe an der Durchschnittlichkeit, aber auch hier haben sich Parameter verändert: So sind die Haßlocher mittlerweile 46,2 Jahre alt und damit rund eineinhalb Jahre älter als der durchschnittliche Deutsche. Oder ist es doch Bielefeld?Ein anderer – deutlich komplexerer – Ansatz, um Gesellschaften zu analysieren, sind die sogenannten zehn Sinus-Milieus. Sie gehören zu einer der bedeutendsten Methoden in der Zielgruppenforschung und werden vom Sinus-Institut erhoben.Ein Milieu soll die Lebenswelt einer Person darstellen, umfasst neben der ökonomischen Komponente (Ober-, Mittel- oder Unterschicht) auch eine ideelle Grundorientierung: Ist die Person eher traditionell oder progressiv? Zwei Beispiele:Das konservative-gehobene Milieu beschreibt das Sinus-Institut so: "Die alte strukturkonservative Elite: klassische Verantwortungs- und Erfolgsethik sowie Exklusivitäts- und Statusansprüche; Wunsch nach Ordnung und Balance; Selbstbild als Fels in der Brandung postmoderner Beliebigkeit; Erosion der gesellschaftlichen Führungsrolle." Sie machen einen Anteil von rund 11 Prozent in Deutschland aus.Das expeditive Milieu wird so beschrieben: "Die ambitionierte kreative Bohème: Urban, hip, digital, kosmopolitisch und vernetzt; auf der Suche nach neuen Grenzen und unkonventionellen Erfahrungen, Lösungen und Erfolgen; ausgeprägte Selbstdarstellungskompetenz, Selbstbild als postmoderne Elite." Sie machen einen Anteil von rund zehn Prozent in Deutschland aus.Nun könnte man meinen, Abensberg sei vor allem konservativ-gehoben, Kreuzberg eher expeditiv. Doch ganz so einfach ist das nicht, wie Tim Gensheimer sagt, der beim Sinus-Institut für Forschung und Beratung zuständig ist.Deutschland sei vielfältig, grundsätzlich komme jedes der zehn Milieus in jedem Ort Deutschlands vor, sagt Gensheimer. "Auch in Kreuzberg finden Sie ein konservativ-gehobenes Milieu." Dennoch gebe es natürlich unterschiedliche Gewichtungen.Ein Blick in die Sinus-Daten einer Auswertung, die das Institut exklusiv für t-online erstellt hat, zeigt: Kreuzberg ist deutlich progressiver als Deutschland, Abensberg etwas konservativer, wenn auch näher am Schnitt als Kreuzberg. Aber: Weder der eine, noch der andere Ort ist tatsächlich "Deutschland", im Sinne seiner Durchschnittlichkeit.Dieses Attribut lässt sich laut dem Sinus-Institut und seinem Partner MB Micromarketing eher an andere Orte heften, etwa die Großstädte Bielefeld und Osnabrück, die als besonders durchschnittlich gelten.Und auch unter den kleineren Städten gibts Treffer: Hier nennt das Institut als Beispiel drei Städte, die allesamt in Nordrhein-Westfalen liegen: Halle/Westfalen, Wülfrath und Rheda-Wiedenbrück. "Im Merz'schen Sinne: Rheda-Wiedenbrück ist Deutschland – oder eine der anderen Städte", sagt Gensheimer.