Landtagswahl in Sachsen: Wieso Wilsdruff boomt – und auch abgehängt ist
Die sächsische Stadt Wilsdruff wächst und boomt. Dennoch fühlen sich die Menschen abhängt. Wie passt das zusammen? Ein Besuch kurz vor der Landtagswahl. Der Wilsdruffer Marktplatz ist beinahe verwaist an diesem Mittag. Ein Rentner sitzt allein mit einer Eiswaffel auf einer Bank im Schatten, ein paar Schulkinder laufen über das grobe Kopfsteinpflaster zur Bushaltestelle. Sonst ist niemand zu sehen. Die umliegenden Geschäfte in den teils hunderte Jahre alten Gebäuden in Pastellfarben haben geschlossen oder warten auf Kundschaft. Doch der Schein der typischen verschlafenen, sächsischen Kleinstadt trügt. Wilsdruff boomt. Die Bevölkerung der Stadt am westlichen Stadtrand von Dresden wächst seit Jahren, zahlreiche Firmen haben sich hier angesiedelt. Seit wenigen Jahren gibt es ein Gymnasium, das Gewerbegebiet soll bald erweitert werden. Auch das zeigt sich auf dem Marktplatz. Denn dort sind zwar kaum Menschen anzutreffen, dafür aber unzählige Autos. Auf der kleinen Straße, die den Platz an zwei Seiten begrenzt, staut es sich. Über Stunden. Nur im Schritttempo schieben sich die Autos hier entlang. Doch der Boom hat bislang wenig daran geändert, dass sich die Menschen hier vernachlässigt fühlen. Das bemerkt jeder sofort, der die Stadt besucht und mit den Bewohnern spricht. Davon profitiert hauptsächlich die AfD , die hier zuletzt 34,5 Prozent der Bürger gewählt haben. Eine Stadt mitten im Aufschwung und mit einer doch unzufriedenen Bevölkerung: Wie ist das möglich? Einer, der sich täglich mit dieser Frage auseinandersetzt, ist Ralf Rother, Bürgermeister und CDU-Mitglied. Er sitzt nur wenige Meter entfernt vom Ende des Staus, der stadtweit Gesprächsthema ist. Denn die Wilsdruffer Innenstadt ist für so viel Verkehr nicht ausgelegt. Allerdings liegt die Stadt direkt an den Autobahnen A4 und A17. Gibt es dort einen Unfall oder Stau, führt der Weg oft über Wilsdruff. Autobahnen als Fluch und Segen für Wilsdruff So leidet die Stadt unter den Autos, profitiert ansonsten aber stark von der Verkehrslage. "Manchmal sind sie ein Fluch, auch weil es noch nicht für alle Ortsteile Umgehungen gibt: Aber generell sind die Autobahnen unser großes Pfund", erklärt Rother. Der Bürgermeister sitzt in grauem Hemd und mit randloser Brille in seinem geräumigen Büro. Von den Autobahnen spricht er als "Lebensadern unserer Zeit". Wilsdruff profitiere sehr von ihnen, denn ihretwegen lassen sich zahlreiche Unternehmen in der Stadt nieder, direkt im Gewerbegebiet mit eigener Autobahnzufahrt. Das sorge für regen Pendlerverkehr, aber Rother betont: "Wir haben eine eigene innere Kraft." Leute lassen sich in Wilsdruff nieder, die Einwohnerzahl wächst konstant und liegt mittlerweile bei rund 15.000. Er lobt das Angebot in der Stadt, das hohe ehrenamtliche Engagement, die Präsenz sämtlicher Schulformen und die hervorragende Ärztesituation. Arztpraxis "weit über der Auslastungsgrenze" Doch das sehen längst nicht alle in Wilsdruff so. Die Stadt ächzt unter dem schnellen Wachstum – und unter den Bewohnern macht sich das Gefühl breit, dass sie dabei auf der Strecke bleiben könnten. Das lässt sich bereits im Nachbargebäude beobachten, einem Ärztehaus, in dem auch eine Gemeinschaftspraxis dreier Hausärzte beheimatet ist. Wie am Marktplatz herrscht auch hier Stau, nun stehen allerdings die Menschen Schlange. Obwohl die Sprechzeiten in wenigen Minuten vorbei sind, ist auch das Wartezimmer noch gut gefüllt. Einige sitzen auf Bänken im Treppenhaus vor der Praxis. "Wir liegen weit über der Auslastungsgrenze", berichtet die Arzthelferin Anne Obendorfer. Man könne allerdings niemanden ablehnen. Wenn der einzige weitere Hausarzt in diesem Jahr in den Ruhestand gehe, sei man die letzte verbliebene Hausarztpraxis in Wilsdruff. Die Folgen: "Es gibt massive Wartezeiten, alle sind gestresst." Die Nähe zu Dresden helfe da nicht. "Die Leute wollen am Wohnort zu Arzt gehen." Zudem müsse man nicht nur Wilsdruff, sondern auch zahlreiche Dörfer drumherum versorgen. Ihre Forderung an eine neue Landesregierung: "Finanzielle Unterstützung und den ländlichen Bereich schmackhaft machen." Damit sich weitere Ärzte ansiedeln, denn die sind derzeit zumindest nicht in Sicht. Der Ärztemangel fängt direkt hinter den Grenzen der Großstädte an. Dresden so nah und doch so fern Ärztemangel, Bevölkerungswachstum, wirtschaftlicher Boom: In Wilsdruff kommt vieles zusammen, was auf den ersten Blick nicht zusammenpasst. Das alles bestätigt die Bürger in ihrem Gefühl, nicht mitgenommen zu werden. Die Menschen in Wilsdruff sind hin- und hergerissen zwischen einem Gefühl des Abgehängtseins im ländlichen Raum und der Abhängigkeit und Präsenz der Großstadt Dresden in unmittelbarer Nähe. Auf viele Menschen hat es offenbar keine Auswirkungen, dass sie in einer Boomregion leben. Es herrscht das Gefühl, dass man in der nahen Landeshauptstadt kein Interesse am in vielen Bereichen doch so fernen Wilsdruff habe. "Für uns interessiert sich doch keine Sau", ruft eine Frau mit weißer Hose und roter Bluse im Vorbeigehen auf dem Marktplatz. Warum sie das so sieht? "Alle Gelder gehen in die Großstädte und hier kümmert sich niemand um kaputte Straßen." An das andere Ende des Marktplatzes grenzt ein Parkplatz. Ein Rentner wäscht dort gerade sein Auto. Auch er beschwert sich über die Straßen. Das Pflaster am Marktplatz müsse unbedingt erneuert werden. Er ruft einen Bekannten herbei, der ihm beipflichtet. "Meine Mutter ist hier neulich erst gestürzt." Dass dafür die Kommune zuständig ist und nicht das Land, ist in diesem Moment irrelevant. Hauptsache, jemand kümmert sich. Viele andere wollen sich nicht äußern, welche Themen sie beschäftigen. Ein Mann sagt: "Es gibt hier viel zu wenig Polizei. Ständig kommt es hier zu Auseinandersetzungen, auch mit Ausländern. Aber die Polizei sehe ich hier nie." Er fühle sich im Stich gelassen, die Politik kümmere sich nicht um Wilsdruff. "Die AfD bietet einfache Lösungen für die Probleme" Bürgermeister Rother kennt diese Klagen und weiß auch, wo die oft hinführen: "Für diese Probleme bietet die AfD einfache Lösungen." Dass das bei den Menschen verfängt, zeigt sich immer wieder. Erst bei den Kommunalwahlen im Juni erlangte die AfD im Stadtrat genauso viele Sitze wie die CDU . Zu einem gewissen Maß versteht Rother die Bürger sogar, sagt er. "Die Landespolitik ist sehr großstadtorientiert, aber die Menschen blicken hier ganz anders auf die Dinge." Doch sein Verständnis hat Grenzen: "Dass die Menschen einfache Lösungen wollen, ist ja verständlich, aber dass sie nicht unterscheiden und dahintergucken, ist bedenklich." Dabei ist das AfD-Kernthema – die Geflüchteten – in Wilsdruff nie wirklich präsent gewesen. Während des großen Andrangs 2015 seien der Stadt lediglich maximal 70 Geflüchtete zugeteilt worden, weil Wilsdruff kaum über leer stehenden Wohnraum verfügte. Laut dem Verteilungsschlüssel hätten bis zu 600 Geflüchtete hier unterkommen können. "Mich haben zwischendurch Leute gefragt, wann die Flüchtlinge ankommen – da waren sie schon längst da. So unmittelbar haben wir die Auswirkungen nie gespürt", führt Rother weiter aus. Zukunftsängste in Wilsdruff: Die Wirtschaft soll es richten Allerdings könnte bald ein tatsächliches Problem auf die Wilsdruffer zukommen: Die Baubranche kriselt. Und gerade die ist in Wilsdruff mit vielen Betrieben vertreten. Aus Dresden kommen kaum noch Aufträge, in Wilsdruff selbst gibt es ohnehin zu wenig Auftraggeber. Die Abhängigkeit der Großstadt zeigt ihre Schattenseiten. Funktioniert die Symbiose nicht mehr, verliert zuerst die Kleinstadt Wilsdruff. Deshalb will Rother den Bürgern in Wilsdruff eine Perspektive geben. Und das gehe vor allem durch mehr Wirtschaft, meint er. "Wir leben von der wirtschaftlichen Entwicklung. Da geht es um Kaufkraft, Arbeitsplätze, einen attraktiven Wohnort und nicht zuletzt Gewerbesteuern." Wirtschaft sei wichtig für die Leute im Osten. "Viele haben sich nach 1990 einen Wohlstand aufgebaut, teilweise nachdem sie viel verloren haben. Nun besteht Zukunftsangst. Man will nicht noch einmal alles verlieren", erklärt Rother. Darum sollen nun neue Branchen nach Wilsdruff gelockt werden, etwa aus dem produzierenden Gewerbe oder der wichtigen Halbleiterherstellung. So will man krisensicherer und unabhängiger dastehen. Kriselt eine Branche, fangen das andere auf. Deshalb will er das Gewerbe- und Industriegebiet erweitern. Wirtschaft vs. Naturschutz: Erbitterter Kampf in Wilsdruff Doch auch dabei stößt er auf erbitterten Widerstand. Denn ein Aktivist namens Michael Rothe versucht, den Ausbau zu verhindern. Rothe wohnt in einem pflanzenbewachsenen, alten Bauernhaus in einem Ortsteil außerhalb des Wilsdruffer Stadtkerns. Auf dem Gelände läuft ein großer schwarzer Hund umher, Rothe und seine Frau servieren Kekse und Kaffee, während sie über ihr wichtigstes Anliegen reden: den Umweltschutz. 2019 haben sie den Naturschutz- und Landschaftspflegeverein "Wilde Sau" gegründet, benannt nach dem gleichnamigen Wilsdruffer Bach. 20 Mitglieder sind sie mittlerweile, dutzende Bäume haben sie gepflanzt. Sie hängen Nisthilfen auf und wollen Streuobstwiesen anlegen – aber die größte Aufgabe ist der Kampf gegen die Stadt. Den führen sie gleich an mehreren Fronten. Deshalb griff Bürgermeister Rother den Verein bereits mehrfach in Stadtratssitzungen an, etwa wegen eines angeblich nicht vollständigen Vereinsregisters. Für Rothe war das "Schikane". Kleine Siege habe der Verein bereits errungen. Nun kämpft er gegen die Erweiterung des Gewerbegebietes. Neben mehreren formellen Verstößen sieht er insbesondere eine Bedrohung der Umwelt – und eines für die Wilsdruffer emotional wichtigen Orts. "Man bekommt den Hals nicht voll" Denn die Anhöhe sei seit Generationen ein beliebtes Ausflugsziel mit Blick über die Stadt. Das Argument des Wachstums will Aktivist Rothe nicht gelten lassen: "Man bekommt den Hals nicht voll, man wird ihn nie voll bekommen. Es geht weiter und weiter, bis nichts mehr bleibt." Er wünscht sich andere Schwerpunkte, um Wilsdruff zu entwickeln: "Die Umgebung durch Bepflanzungen aufwerten, Wanderwege anlegen und so attraktiver für Besucher machen." Denn die Lage in unmittelbarer Nähe zu Dresden und dem Osterzgebirge biete Chancen für den Tourismus . Die Abhängigkeit von der Strahlkraft Dresdens würde aber bleiben. Doch die lässt sich in fast jedem Bereich ohnehin nicht vermeiden.