Dresden | Radaktivistin erstreitet Urteil: Mittig Fahren ist keine Nötigung
Eine Radaktivistin zeigt einen Autofahrer an, der dauerhupend hinter ihr dicht auffährt. Vor Gericht landet dann sie wegen Nötigung. Aus dem kuriosen Fall in Dresden lässt sich viel lernen. Als Radfahrer, sagt Ulrike Medger, habe man zwei Möglichkeiten auf öffentlichen Straßen: "Die einen nehmen die Gefahr in Kauf. Die anderen den Stress." Beide Typen sind sehr gut zu sehen in einem Video, das jetzt in einem Prozess vor dem Amtsgericht Dresden die Wende gebracht hat. Es zeigt deutlich, dass Ulrike Medger zu der Sorte Radfahrer gehört, die Sicherheit will und dafür Anfeindungen von Autofahrern erlebt. Es zeigt aber auch, dass Radfahrer auf angemessenen Platz auf der Straße pochen können: Nicht ganz rechts am Fahrbahnrand zu radeln, kann völlig legitim sein. Die Radaktivistin hat ein Urteil erstritten, das vielen Zweiradfahrern Mut machen könnte. Ulrike Medger fuhr auf der B6 in Dresden stadtauswärts. Dabei kam sie der Mitte der Fahrbahn ziemlich nah und trieb so einen Autofahrer hinter sich zur Weißglut. Dauerhupend und mit aufheulendem Motor fuhr er sehr dicht auf ihr Fahrrad auf, ehe er nach 300 Metern abbog. "Ich hatte regelrecht Angst", sagt sie. Anderer Radfahrer wurde eng überholt In dem nach hinten gefilmten Video ist aber auch zu sehen: Hinter Medger fuhr ein anderer Radfahrer nah am Fahrbahnrand, Autos überholten ihn mit sehr wenig Seitenabstand. Dieser zweite Radfahrer hatte keinen Ärger mit ungeduldigen Autofahrern. Er hatte ein größeres Unfallrisiko. Der zweite Radfahrer ist derjenige, der die Erwartung der meisten Verkehrsteilnehmer erfüllen dürfte: Radfahrer haben äußerst rechts zu fahren, um die schnelleren Autos nicht vom Überholen abzuhalten. Ulrike Medger hingegen fand sich später auf der Anklagebank wieder: Nötigung. "Verkehrserzieherische Behinderung der nachfolgenden Fahrzeuge" wurde ihr vorgeworfen, und die stehe "in keinem Verhältnis zu dem von ihr angestrebten Zweck, nicht überholt zu werden". Die "Sächsische Zeitung" nannte Medger in der Vergangenheit bereits "Dresdens lauteste Radaktivistin". Die 39-Jährige tritt im Netz unter dem Pseudonym "Agathe Bauer" auf und postet dort positive und negative Beispiele aus dem Radfahrerleben. Diese Negativbeispiele veranlassen sie und andere Aktivisten, von "motorisierter Gewalt" gegen Radfahrer zu sprechen, von "Autopolizei" und "Autojustiz", weil die Perspektive der Autofahrer oft sehr ausgeprägt sei. Das Urteil zeige nun, dass genau dieses Denken vorgeherrscht habe, sagt Medger. "Gefahrloses Überholen" unmöglich gemacht? Diesen Eindruck bekam Medger auch, als sie den hupenden Autofahrer wegen Nötigung anzeigte und zur Vernehmung bei der Polizei saß – und dort selbst zur Beschuldigten wurde: Der zuständige Hauptkommissar hielt ihr vor, sie habe die Autofahrer gezwungen, hinter ihr herzufahren. Dabei sei sie einerseits nicht rechts gefahren, wie das vorgeschrieben sei. Sie habe zudem noch einen Stock dabeigehabt, der ein "gefahrloses Überholen" unmöglich gemacht habe. Der Stock war ein Ast, den sie gefunden und mitgenommen haben will als mögliche Fahnenstange für Fahrraddemos, die sie in Dresden mitorganisiert, so Medger. Er sei bei der Fahrt nicht als Abstandhalter gedacht gewesen. Vor Gericht sollte er schließlich gar keine Rolle mehr spielen. Medger und ihr Anwalt hatten andere Argumente. Das Rechtsfahrgebot lässt Verkehrsteilnehmern Beurteilungsspielraum, solange sie sich so weit rechts halten, wie es im Straßenverkehr "vernünftig" ist. So erklärt Roland Huhn, Verkehrsrechtsexperte des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs e. V.: "Das Rechtsfahrgebot bedeutet nicht, dass Radfahrende sich an den Bordstein oder die Fahrbahnkante quetschen müssen." Zu den leichten Pendelbewegungen beim Fahren komme, dass der Fahrbahnrand häufig übersät sei von gefährlichen Stellen. "Deshalb ist es für Radfahrende geboten und auch durch die Rechtsprechung vielfach bestätigt, einen Sicherheitsabstand zum Fahrbahnrand zu halten." In Dresden gibt es neben der Ausfahrtstraße statt eines Seitenstreifens Bewuchs und einen Graben. Der Fahrbahnbelag hat am rechten Rand Spurrillen und Schlaglöcher, wovor sogar Verkehrsschilder warnen. Dies ist auf einem zweiten Video zu sehen, das von ihr mit der Helmkamera in ihrer Fahrtrichtung aufgenommen wurde. Straße nicht breit genug zum Überholen Die Bilder beider Kameras zeigen aber noch etwas anderes: Dass sie mittiger fuhr, hat den Autofahrer nur daran gehindert, zu tun, was er gar nicht gedurft hätte. Denn der Autofahrer hätte angesichts der Verkehrsregeln überhaupt nicht überholen dürfen. Die Rechnung dazu ist einfach: Seit der Novellierung der Straßenverkehrsordnung im April 2020 gilt, dass Kraftfahrzeuge beim Überholen von Radfahrern mindestens zwei Meter Abstand halten müssen. Auf der Fahrbahn mit 3,50 Meter Breite, durchgezogener Linie und Sperrfläche geht das mit dem Audi A6 des Dränglers nicht. Allein der Wagen bringt es mit Spiegeln auf eine Breite von 2,08 Meter. Auch einem schmaleren Auto hätte der Platz nicht gereicht, ohne über die durchgezogene Linie zu fahren. "Ein faktisches Überholverbot", erklärt Medgers Anwalt Johannes Lichdi, früherer Landtagsabgeordneter der Grünen. ADFC-Experte Roland Huhn: "Das ist so an Stellen, die nicht die notwendige Breite haben Das wissen oder respektieren die meisten Autofahrenden nicht." Der ADFC fordere deshalb Aufklärungskampagnen zum Mindestüberholabstand und die schnelle Entwicklung von geeigneter Verkehrsüberwachungstechnik für die Polizei. Die Umstände hätten Polizei und Staatsanwaltschaft in den Videos sehen und berücksichtigen können, die Medger auf einem USB-Stick der Polizei übergeben hatte. Doch offenbar spielte das keine Rolle. Medger hatte zunächst einen Strafbefehl erhalten. Akzeptiert die angeschuldigte Person den Strafbefehl nicht, kommt es zur Verhandlung vor dem Amtsgericht. Die Radfahrerin hatte den Strafbefehl nicht akzeptiert. Im Gerichtssaal geschah, was dann oft passiert. Kurzer Prozess, die Staatsanwältin schlug eine Einstellung unter Auflagen vor: Kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung mehr und keine Verurteilung, wenn Medger eine Geldbuße zahlt. Aber sie stimmte nicht zu. Video brachte die Wende Es war der Moment, wo endlich das Video ins Spiel kam. "Staatsanwaltschaft und Gericht hatten es bis dahin nicht gesehen", sagt Anwalt Lichdi. Er hatte es auf dem Tablet, zeigte es. Jetzt forderte der Vertreter der Anklage Freispruch, der Richter stimmte zu. Urteil rechtskräftig. Der hupende und drängelnde Autofahrer ist schon lange aus dem Schneider. Die Staatsanwaltschaft hatte im Februar entschieden, dass es kein öffentliches Interesse an seinem Fall gebe. Eine Strafverfolgung stelle kein gegenwärtiges Anliegen der Allgemeinheit dar. Teil der Begründung: Die Radfahrerin habe durch ihr eigenes Vortatverhalten zur Eskalation der Situation beigetragen. Ulrike Medger sagt, sie werde dort weiter so fahren. "Der Abstand zum Fahrbahnrand dient meiner Sicherheit", sagt die Radfahrerin, "er ist nicht dazu da, andere am Überholen zu hindern." Das Urteil sei auch ein Signal an andere Radfahrer: "Nehmt euch den Raum, den ihr für eure Sicherheit braucht."