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VW in der Krise: Die Bequemlichkeit ist vorbei

Volkswagen steht vor drastischen Veränderungen und plant die Schließung von drei Werken. Die Entwicklungen erschüttern nicht nur das Unternehmen, sondern auch viele ganz persönliche Gewissheiten. Ich erinnere mich noch genau an meinen letzten privaten Besuch im VW-Werk: Es war 2003, der Golf 5 wurde den Mitarbeitern und ihren Familien auf dem Werksgelände in Wolfsburg präsentiert. Zwischen Currywurst- und Getränkeständen spielte Udo Lindenberg , und mein Vater nahm mich (damals 16), meine Mutter und meine damalige Freundin an seinen Arbeitsplatz mit. Es war Sommer, die Leute waren gut gelaunt und es schien, als würde es bei VW immer so weitergehen. Ein goldenes, bequemes Zeitalter mit Rekordabsätzen und Currywurst. Mehr als 20 Jahre später bin ich Autoredakteur und die aktuellen Nachrichten, die nun viele schockieren, überraschen mich nicht: VW will drei Werke schließen, Zehntausende sollen ihren Job verlieren . Die Bequemlichkeit und das goldene Zeitalter sind vorbei. Anlass zur Beunruhigung gab es lange nicht Als Arbeiterkind habe ich dem Konzern indirekt viel zu verdanken. Aufgewachsen in der Region Gifhorn/Wolfsburg, kannte ich kaum jemanden, dessen Onkel oder Bruder nicht im Werk arbeitete. VW gehörte zum Alltag. Auf den Straßen war das Markenemblem allgegenwärtig, die Arbeiterstadt Wolfsburg mauserte sich dank sprudelnder Gewerbesteuereinnahmen, der Konzern baute die ultramoderne Autostadt als Präsentationsfläche für seine Fahrzeuge, veranstaltete Konzerte wie 1996 das von Jon Bon Jovi mitten in der niedersächsischen Provinz. Wenn VW wankt, schüttelt es die ganze Region – mit diesem potenziellen Schreckensszenario bin ich aufgewachsen, so wie viele andere Kinder in Niedersachsen auch. Schließlich hängen etliche Zulieferer am Tropf des Industriegiganten. Doch wirklich Anlass zur Beunruhigung gab es lange nicht. Die Pendlerströme nach Wolfsburg ließen die Bundesstraßen der Region zum Schichtwechsel verstopfen. Und die Pendler, sprich: unsere Eltern, Großeltern und andere Verwandte, brachten jeden Monat sicheres Geld nach Hause. Und manchmal auch die originale VW-Currywurst mit passendem Ketchup, die seit Jahren das meistverkaufte VW-Produkt ist. Die Sicherheit schuf Möglichkeiten Wer es einmal ins Werk geschafft hatte, würde hier als Rentner herausgehen. Das war eine Gewissheit, an der niemand je gezweifelt hat. Krisen wie in den frühen Neunzigerjahren wurden dank einer starken Gewerkschaft mit einer Viertagewoche abgefedert. Gut für uns – so konnte mein Vater an den langen Wochenenden unser Haus bauen. Ab 1994 garantierte das Unternehmen den Fortbestand der Jobs. Für VW-Angestellte war klar: Sie konnten sich dank guter Gehälter Urlaube erlauben und die Kinder nach der Schule im Studium unterstützen. Auch mein Lebensweg wäre ohne all das vielleicht ganz anders verlaufen. Ein Privileg, für das ich dankbar bin. Viele Arbeiter und Angestellte meiner Kindheit – auch mein Vater – sind schon mit 60 in Altersteilzeit gegangen. Mit finanziellen Einbußen, aber planbar. Damit hat VW bereits in den vergangenen Jahren Stellen abgebaut, doch die Angestellten profitierten am Ende davon. Allerdings hatte all das auch seine Kehrseite: Die Kosten für die Produktion von Autos sind in Deutschland auch aufgrund dieser vielen Zugeständnisse hoch. Nur, wer meint, das sei der einzige Grund für die Autokrise bei VW, der irrt. Die Marke VW verharrt seit Jahren in verkrusteten Strukturen, sie funktioniert wie eine riesige Behörde – mit verheerenden Konsequenzen. Die Krise schlägt Wellen Der Dieselskandal 2015 zeigte die gnadenlose Selbstüberschätzung der Manager, die seinerzeit mit aller Kraft an altbekannter – und kurzfristig gewinnversprechender – Technik festhielten und dafür lieber Abgaswerte mit Softwaretricks schönrechneten, statt neue Wege zu beschreiten. Sprich: neue Technologien zu erforschen. Damit gerieten die Gewissheiten erstmals ins Wanken. Viel zu spät kamen dann die ersten E-Autos, die Entwicklung eigener Software geriet zunächst zum Fiasko. Die einst für Perfektion bekannte Marke VW brachte immer teurere, aber kaum noch innovative Autos auf den Markt. Und das Zögern bei E-Antrieben und Software führte auf dem wichtigen Markt China dazu, dass Autofahrer dort lieber zu Modellen aus der Volksrepublik griffen und greifen. Hinzu kommt hierzulande die katastrophal niedrige Nachfrage bei den E-Autos, deren Entwicklung viel Geld verschlingt. Die Krise lässt sich nicht beschönigen. Kein Fall ins Bodenlose Die Zeiten haben sich geändert. Meine Generation wird nicht mehr mit Jobgarantien, Viertagewochen oder Altersteilzeiten leben können – auch nicht diejenigen, die bei VW arbeiten. Nicht nur bei den Autoherstellern selbst, sondern auch bei Zulieferern platzen Aufträge, brechen Jobs weg. Möglicherweise finden einige Angestellte in ihrer Heimat keinen neuen Arbeitsplatz und sind gezwungen, wegzuziehen. Und selbst für die Currywurst könnten harte Zeiten anbrechen: Weniger Gäste in den Kantinen lassen auch hier die Absatzzahlen einbrechen. Die Krise ist tragisch für die Betroffenen. Aber, so brutal es klingt: Es ist kein Fall ins Bodenlose, sondern in eine Wirklichkeit, in der viele Menschen in Deutschland schon lange leben. Es ist viel zu früh, den Untergang von VW herbeizuschreiben. Acht neue Modelle hat die Marke in der Pipeline, darunter den neuen Golf und einen Kleinwagen in der Größe eines Polo – aber eben elektrisch. Ob das reicht, wird die Zeit zeigen. VW muss seine Strukturen massiv aufbrechen und neu denken – und die Mitarbeiter müssen sich an neue Realitäten gewöhnen. Das Management ist daher jetzt gut beraten, Vorbild zu sein und den Sparkurs auch bei den eigenen Gehältern und Boni mitzutragen. Anmerkung des Autors: Die biografische Nähe zu Volkswagen hat keinen Einfluss auf meine journalistische, unabhängige Arbeit.