FDP-Parteitag: Weder Dürr noch Lindner sind bereit für Selbstkritik
Die FDP trifft sich in Berlin zu ihrem ersten Parteitag seit ihrem Ausscheiden aus dem Bundestag. Ist nun Zeit für Selbstreflexion und Fehlersuche? Fehlanzeige. Fünf junge Liberale ziehen an einem Seil. Erst lachen sie noch, dann spannen sich die Gesichtsmuskeln mehr und mehr an, weitere Liberale kommen hinzu und hängen sich an den Strick, doch: Das Auto am anderen Ende des Seils rührt sich kein Stück. Erst als jemand auf die Idee kommt, die Handbremse zu lösen und zwei Minuten später auch noch in den Leerlauf zu schalten, bewegt sich der Wagen. Das muskelbetriebene Abschleppunternehmen ist eine Aktion der Jungen Liberalen (Julis), der Jugendorganisation der FDP . Vor dem Estrel-Kongresszentrum in Berlin-Neukölln, in dem der erste liberale Bundesparteitag nach der Wahlniederlage stattfindet, haben die Jungpolitiker eine ältere Mercedes-Limousine aufgebaut, Front und Motorhaube sind von einem Haufen Pappkartons bedeckt. Aus diesem Haufen wollen die Julis das Auto befreien. "Wir ziehen den Karren aus dem Dreck", steht auf einem Transparent hinter ihnen. FDP hat neuen Chef: Er ist Christian Lindners Nachfolger Dass das Herausziehen nur mäßig gut klappt, steht stellvertretend für den ganzen Parteitag. Die FDP behauptet, neu anzufangen, nachdem sie bei der Bundestagswahl im Februar ein Wahlergebnis von 4,3 Prozent der Stimmen erzielte, an der Fünfprozenthürde scheiterte und aus dem Bundestag flog. Doch wie genau der Neustart aussehen soll, darüber scheinen sich nur wenige wirklich Gedanken machen zu wollen. Echte Selbstkritik und Fehleranalyse fehlen. Die One-Man-Show ist vorbei Dabei hätte die Partei Selbstreflexion bitter nötig: Sich aus der zweiten Liga des Politikbetriebs wieder hochzukämpfen, ist kein Selbstläufer, allein schon deshalb, weil die Liberalen nun weniger Parteienfördergelder vom Staat und weniger Aufmerksamkeit von den Medien bekommen. Zudem scheint die Enttäuschung der Wähler nicht nur ein kurzfristiger Moment der Verärgerung gewesen zu sein: Umfragen sehen die FDP derzeit bei bundesweit drei bis vier Prozent, also noch weniger als bei der verlorenen Wahl. Noch schwerer aber wiegt, dass die FDP auch personell neu anfangen muss, denn viele ihrer Spitzenpolitiker gehen: Noch während der Ampelzeit ist der damalige Verkehrsminister Volker Wissing aus der FDP ausgetreten, weil er nicht mit der Koalition brechen wollte. Der ehemalige Bundesjustizminister Heiko Buschmann verlässt die Politik. Und Parteichef Christian Lindner , der die Partei seit 2013 wie eine One-Man-Show geführt hat, zieht sich nach der Wahlschlappe ins Private zurück, will freier Redner sein und sich um seine Familie kümmern. Die Delegierten verabschieden Lindner entsprechend: Auf mehrere Lobesreden folgt ein kurzes Video mit einem Best-of von Lindners Reden in seiner politischen Karriere. Der Lindner der Vergangenheit dröhnt zu Popmusik durch den Saal, Kampfrede folgt auf Aufruf folgt auf Plädoyer. Danach betritt Lindner selbst die Bühne und zeigt, dass er es rhetorisch mit seinem früheren Ich immer noch aufnehmen kann. Pathos ja, Selbstkritik nein So sagt er, nicht nur die FDP, die im Grunde seine FDP ist, habe eine Niederlage erlitten, sondern "der Liberalismus ist weltweit in der Defensive". Die FDP müsse ihren Wählern besser erklären, worum es gehe – und das seien nicht primär die Steuersenkungen, welche die Partei immer wieder fordert, sondern dass es um das Kernideal der Partei gehe, die Freiheit. Und darüber hinaus sollten seine Kollegen den Wählern vermitteln: "Es geht uns um dich!" Dabei hackt sein Finger durch die Luft. Lindner gestikuliert, macht Kunstpausen und scheint vor Kraft und Tatendrang kaum laufen zu können. Zum Ende seiner Rede wird er immer lauter, will seine Parteikollegen motivieren: "Gibt es ein edleres Motiv, als sich für die Freiheit seiner Mitmenschen einzusetzen? Nein." Nachdem er geendet hat, erhebt sich der gesamte Saal. Minutenlange Standing Ovations, auch nachdem Lindner sich schon wieder gesetzt hat. Auf den Bildschirmen links und rechts der Bühne leuchtet groß das Wort "Danke!" auf. Die FDP, das wird in diesem Moment klar, ist immer noch eine Lindner-Partei. Was hingegen weniger mit Pathos als durch weitgehende Abwesenheit glänzt, ist der Mangel an Kritik. Zwar zeigt Lindner sich in seiner Rede auch selbstkritisch und sagt: "Wir wären nicht hier, wenn wir keine Fehler gemacht hätten." Aber eine Entschuldigung für die Wahlniederlage, die er maßgeblich mitzuverantworten hat, bleibt aus. Andererseits kommt auch aus der Partei kaum Kritik an der abtretenden Parteispitze und der Politik, für die sie stand. Lobesabschiedshymnen dominieren die Veranstaltung. Die anderen sind schuld Die Delegierten und Gäste der Partei sind größtenteils guter Laune: Während weniger spannender Tagesordnungspunkte, etwa während des Berichts des Schatzmeisters, stehen sie in Kleingruppen in der Vorhalle, grüßen sich, trinken Cappuccino und tauschen sich aus. Es wirkt mehr wie ein Klassentreffen als eine Krisensitzung. Annette Sturm-Werner etwa, FDP-Sympathisantin aus Lehrte bei Hannover , will zwar einen "Neuaufbruch". Die Schuld für das Wahlergebnis sieht sie aber nicht bei der Spitze der Partei, sondern vor allem bei den rot-grünen Koalitionspartnern und darin, dass die FDP schlicht die kleinste Partei der Ampel war. Inhaltlich ist sie mit Wahlverlierer Lindner einer Meinung, es brauche weiterhin die Klassiker des FDP-Programms: Steuersenkungen, weniger Bürokratie und Entlastungen für die Wirtschaft. Gert Wöllmann, Delegierter vom Landesverband Hamburg , kritisiert Lindner nur dezent. Der scheidende Parteichef habe zwar auch Fehler gemacht; er hätte etwa in der Ampelzeit stärker gegen Rot-Grün vorgehen und die Koalition schon früher brechen sollen. Aber insgesamt sei Lindner "ein großer Liberaler" und ein außergewöhnlicher Redner, sagt Wöllmann. Nicht zuletzt habe Lindner die FDP zweimal hintereinander, 2017 und 2021, mit einem zweistelligen Ergebnis in den Bundestag geführt. Die Basis hat Redebedarf Und auch der Mann, der es jetzt richten soll, Christian Dürr, den der Parteitag mit 82 Prozent der Delegiertenstimmen zum neuen Bundesvorsitzenden wählt, deutet Selbstkritik nur an. Er sagt: "Wir müssen uns hinterfragen." Es brauche Reformen. Wie genau er was hinterfragen will, lässt er aber offen, und wiegelt gleich wieder ab: "Die Antwort kann aber nicht sein, dass man sämtliche Überzeugungen über Bord wirft." Und schon geht er zur Kritik an den anderen Parteien über. Wer nur auf die Showeinlagen rund um Lindners Abschied und Nachfolge schaut und sich von der allgemeinen Stimmung leiten lässt, könnte zum Schluss kommen, die Partei sei mit sich im Großen und Ganzen im Reinen. Und das, obwohl Johannes Vogel, der stellvertretende Parteivorsitzende, zu Beginn der Veranstaltung noch mit Verweis auf das Ausscheiden aus dem Bundestag von einem "existenzbedrohenden Einschnitt" gesprochen hatte. Doch es gibt sie, die wirklich selbstkritischen Stimmen. Über 70 Rednerinnen und Redner aus der ganzen Republik haben sich für den Tagesordnungspunkt "Aussprache" angemeldet, jeder von ihnen hat drei Minuten Redezeit, viele überziehen diesen Rahmen. Obwohl der Parteitag sich nach einer Weile darauf einigt, die Redezeit auf zwei Minuten zu reduzieren, dauert die Aussprache nicht zwei Stunden, wie veranschlagt, sondern über vier. Die Basis der Partei hat Redebedarf. Die schärfste Kritik kommt von einem Außenseiter Das Problem: Die Delegierten hören einander kaum zu. Rund die Hälfte ist gar nicht im selben Raum, sondern in der Vorhalle. Von den im Plenarsaal Verbliebenen ist wiederum nur die Hälfte geistig anwesend, der Rest unterhält sich oder hantiert mit dem Handy, ist auf Social Media oder beim Online-Shoppen. Fundamentalkritik scheint so wenig Gehör zu finden. Etwa die von Franziska Brandmann, der Chefin der Jungen Liberalen. Sie sagt: "Wir dürfen die Verantwortung nicht auf Rot-Grün oder Friedrich Merz abschieben." Sie erzählt auch eine Anekdote von einer Wählerin, die die FDP als "Machopartei" kritisiert und daher lieber die CDU gewählt habe. Brandmann schließt daraus: Die FDP müsse nun echte Reformen anstoßen. Dafür erntet sie nur hier und da einen Klatscher, aber keine Jauchzer wie Lindner und Buschmann bei ihrem Abschied. Die schärfste Kritik an der Art, wie die FDP ihren Neustart begeht, kommt ausgerechnet von Thüringens FDP-Chef Thomas Kemmerich. Er ist ein Außenseiter in der Partei, seit er sich 2020 mit Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten hat wählen lassen. Aufgrund öffentlicher wie parteiinterner Kritik trat er zwei Tage später zurück. Kemmerich: "Das ist doch Käse" Er sagt: Weil die Partei auch drei Monate nach der Wahl ihre eigenen Köpfe und ihre Politik nicht wirklich kritisch hinterfrage, komme sie auch zu keiner Lösung. Die Behauptung seiner Parteikollegen, sie planten einen Neustart, kommentiert er mit: "Das ist doch Käse." Seine Partei brauche zuallererst eine Fehleranalyse. Auch die neue Führung sieht er skeptisch: "Dürr muss beweisen, dass er die Last der gescheiterten Ampel abschütteln kann." Zudem kritisiert er Dürrs Pläne für die neue Besetzung des Parteipräsidiums: "Das Personal ist nach Regionen und nicht nach Kompetenz ausgewählt." Welchen Kandidaten er für besonders inkompetent hält, will er aber nicht sagen. Aber auch Kemmerich glaubt nicht, dass die Partei einen inhaltlichen Politikwechsel brauche. Sie solle sich auf ihre Themenklassiker besinnen, die Wirtschaft stärken, für die Freiheit eintreten, den Einfluss des Staates auf die Bürger reduzieren. Das habe Lindners Team in der Ampel nur versprochen, aber nicht geliefert: "Sound und Botschaft passten nicht zum Handeln." Selbst bei Kemmerich, vermutlich einem der größten internen Kritiker der FDP, wirkt die Fehleranalyse daher halbherzig. Und viele Delegierte und Funktionäre scheinen sich noch keine Gedanken darüber gemacht zu haben, dass sie ohne Lindner nun selbst den Karren aus dem Dreck ziehen müssen – und wie genau sie das bis zur nächsten Bundestagswahl schaffen wollen.